Schneehäschen Lieschen

Das gelbe Tulpenfeld



Lieschen machte sich zuerst auf ins gelbe Tulpenfeld. Viele Tulpen waren noch gar nicht aufgegangen, einige aber teilweise schon geöffnet. Sie warteten sicher noch, bis die Sonne etwas höher am Himmel stehen würde. Lieschen hopplete freudig durchs nasse Feld und genoss die Sonnenstrahlen. Plötzlich erblickte sie vor sich einen riesigen Adler. Sie erschrak wahnsinnig und schrie so laut sie konnte. Aber das half leider gar nicht. So früh war noch niemand auf den Beinen.
Adler waren Lieschens größte Feinde, weil sie so unerwartet auftauchten und dann aus den Lüften die Häschen jagten. Lieschen war starr vor Schreck. Aber zu ihrer Verwunderung war dem Adler gar nicht nach Jagen zumute. Er saß auf einem großen Stein am Feldrand und drehte seinen Kopf langsam zu Lieschen. Er sagte mit einer tiefen Stimme: "Komm näher kleines Häschen, ich tue dir nichts." Lieschen war Angst und bange zumute und sie wusste nicht, ob sie dem Frieden trauen sollte. Aber irgendetwas schien an diesem Adler anders zu sein. Er war ruhiger und irgendwie wirkte er ziemlich weise. "Häschen komm schon her, leiste mir etwas Gesellschaft." sagte der Adler erneut mit einer tiefen, sanften Stimme.
Lieschen näherte sich dem Adler nun doch etwas zögerlich.
Der Adler spannte seine weiten Flügel auf und begrüßte Lieschen nun: "Ich bin Archimedes. Archimedes Steinadler. Du brauchst wirklich keine Angst vor mir zu haben. Ich bin zu alt zum Jagen. Ich bin ein starker, schneller Adler gewesen. Ich war bekannt, weit über die Alpen hinaus, aber diese Zeiten sind längst vorbei. Ich bin mittlerweile ruhiger geworden, ich fresse nicht mehr so viel. Meine Tochter Anneliese Adler bringt mir immer etwas Essbares mit, wenn sie jagen geht. Du brauchst keine Sorgen haben, denn sie ist gerade nicht hier.". Lieschen atmete schließlich beruhigt durch.
"Kleines Häschen, du bist noch jung, aber denk an meine Worte: Auch Du wirst vermutlich eines Tages ein alter Hase sein und vielleicht hast du dann auch ein paar Kinder, die dir helfen und dich versorgen." sagte der Adler.
Lieschen wusste nicht recht was sie entgegnen sollte. Da saß sie nun, neben einem ihrer größten Feinde. Der Adler tat er ihr auch ein wenig Leid. Am liebsten hätte sie den großen Adler in den Arm genommen, aber das war ihr dann doch ein wenig zu heikel. Man wüsste ja nie, ob er sich vielleicht doch mal umentscheiden und Appetit auf ein kleines Schneehäschen bekommen könnte, wenn Lieschen ihm so nahe wäre.

Lieschen und Archimedes saßen noch eine Weile schweigend da. Sie schauten in den Sonnenhimmel und schwiegen einfach. Lieschen grübelte ein wenig über das Gesagte nach. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, dass auch sie irgendwann alt sein würde.

"Lieber Archimedes, ich habe mich sehr gefreut deine Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich dachte immer, ihr Adler wärt alle gefährlich für mich. Ich werde dich ein anderes Mal besuchen kommen." Lieschen hüpfte zum Abschied in die Luft und hoppelte dann durchs gelbe Tulpenfeld. Der alte Adler Archimedes rief ihr noch sanft: "Leb wohl, kleines Häschen!" hinterher und wand seinen Blick dann wieder Richtung Himmel. Früher konnte er hoch oben am Himmel fliegen. Diese Zeiten waren vorbei. Aber immer wenn er seine Augen schloss, erinnerte er sich daran, wie schön es war, einst mit ausgebreiteten Flügeln durch die Wolken zu gleiten und die Welt von oben zu sehen.

Lieschen hoppelte weiter zum roten Tulpenfeld.


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